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Alltag in Erziehungsstellen

Eine liebevolle Beschreibung des täglichen „Wahnsinns“

„Wie lange macht ihr diese Arbeit schon? Habt ihr denn noch Freunde???“

Morgens um 6:30 Uhr piept der Wecker. Schlaftrunkend wandele ich in Richtung Küche und öffne die Terrassentür für die Katzen, die schon von außen kratzen. Der Große kommt die Treppe runter, schüttet sich etwas zum Trinken in den Becher und begrüßt mich noch ganz verschlafen.

Der Jüngste rast währenddessen fröhlich plappernd zur Tür herein und fängt sofort an, Fragen über Gott und die Welt zu stellen. Beim wilden Gestikulieren stößt er gegen seinen Becher und ich gebe ihm den Lappen zum Aufwischen der Pfütze- glücklicherweise hat er dieses Mal nicht auch noch seine Kleidung getroffen! Der Große schüttelt augenrollend den Kopf.

Nebenbei schmiere ich Brotscheiben für das Frühstück, Stullen für die Schulpausen und erinnere die Jungs nach einem Blick in den Kalender an ihr Sport- oder Schwimmzeug.

Währenddessen entsteht am Tisch ein Streitgespräch zwischen den Jungs, wer denn nun wen zuerst angeguckt hat und warum- ich füttere die Katzen.

Nach dem Zähneputzen reinige ich mit einer Spritze ein nicht mehr zu füllendes Loch in den Zähnen des Kleinen, das eine Erinnerung ist an sechseinhalb Jahre mangelnder bzw. nicht vorhandener Zahnpflege bei den leiblichen Eltern.

Wenn der Große um kurz nach sieben Uhr das Haus verlassen und der Kleine schließlich auch seine Mütze gefunden, den Reißverschluss der Jacke hochgezogen hat und samt Sporttasche auch noch pünktlich am Schulbus angekommen ist, atme ich tief durch.

Jetzt beginnt mein Vormittag mit Rufbereitschaft: Oft genug kamen Anrufe aus der Vorschule und ich musste den Kleinen wieder von dort abholen und zu Hause betreuen, weil sein Sozialverhalten im Elternhaus sechseinhalb prägende Jahre nicht trainiert wurde und er sich sehr provozierend und aggressiv- also für die Schule nicht tragbar- verhielt.

Beim ersten Kaffee nehme ich mir den Kalender vor und sortiere die Termine für heute:

Den Kleinen nach der AG von der Schule abholen: 13:45 Uhr.

Der Große hat einen Arzttermin in Hildesheim: 16:45 Uhr, Abfahrt spätestens um 16:15 Uhr-  am besten noch etwas eher wegen der Parkplatzsuche.

Allerdings ist mein Mann da noch nicht zu Hause, ich muss also selber mit dem Großen nach Hildesheim fahren.

Auf den Kleinen passt dann kurz unsere leibliche Tochter auf- Nein, das geht nicht, die muss ja nachmittags auch nochmal zur Schule fahren und ihre Facharbeit präsentieren…aber wie kommt sie dahin?

Also muss ich Opa einschalten und für die Betreuung des Kleinen frage ich die Nachbarin…

Mal wieder! Ohne die Einsätze von Nachbarin und Familie wie Opas „Taxieinsätze“ wäre ich so manches Mal aufgeschmissen!

Während Waschmaschine und Geschirrspüler laufen fahre ich einkaufen, bereite das Mittagessen vor, sauge schnell durch, lüfte in den Zimmern, beziehe die Betten,…

Manchmal  schreibe ich neben Notizen für die Tagesdokumentation auch Entwicklungsberichte zu den Hilfeplänen mit dem Jugendamt, den Eltern, oder für die Kinder- und Jugendpsychiatrie,…

Jeweils einmal im Monat kommen Fachberater und eine Supervisorin zu mir zur Reflektion und Beratung meiner Arbeit. Erziehungspläne werden entworfen oder Elternkontakten der Jungen reflektiert- kurz: die Fachlichkeit meiner Arbeit wird sichergestellt.

Apropos Elternkontakte mit den leiblichen Eltern der Jungs: Diese finden neuerdings zur Freude der Kinder mit Übernachtung an Wochenenden statt- und benötigen genau deshalb im Anschluss ein größeres Maß an Aufbereitung.

Einmal wöchentlich treffe ich mich mit meinen Kollegen in deren Erziehungsstellen irgendwo im Großraum Braunschweig- Peine- Gifhorn- Wolfenbüttel zum gemeinsamen Austausch.

Mit den Lehrkräften der Jungs stehe ich ebenfalls in regelmäßigem Kontakt durch Telefonate, Schriftverkehr oder persönliche Gespräche.

Manchmal besucht mich meine Nachbarin zum Kaffeetrinken und zum einfachen Gedankenaustausch.

Dann und wann treffe ich mich mit Freundinnen zum Frühstücken oder zum Bummeln in der Stadt. Morgens ist ja der Teil des Tages, in dem nebenbei auch noch meine Freizeit stattfindet.

Dann… beginnt der stressigere Teil des Tages!

Nach dem Mittagessen und einer anschließenden Pause betreue ich den Kleinen bei den Hausaufgaben und begrüße um 15:30 Uhr den Großen, der jetzt von der Förderschule nach Hause kommt.

Es folgt eine gemeinsame Obstpause, in der die Jungs sich erneut darüber in die Haare bekommen, wer nun wen zuerst angeguckt hat- der absolute Dauerbrenner momentan!

Auch unsere leibliche Tochter trifft um diese Zeit wieder ein.

Diese Situation ist oft sehr spannungsgeladen, denn jede/r möchte etwas von seinem Tag berichten.

Die nächsten Konflikte sind vorprogrammiert, denn beide Jungen sind durch ihre Vergangenheit traumatisiert und haben Einschränkungen und Auffälligkeiten im Verhalten. Die Schwächen des einen sind im Sozialverhalten ausgeprägt, während der andere eine geistige Einschränkung hat: Eine manchmal sehr explosive Mischung, die da aufeinanderprallt und gesteuert werden muss!

Durch ihr Verhalten ergeben sich kaum Freundschaften mit Kindern im Ort- und so verbringen sie den Rest des Tages eben notgedrungen zusammen.

Man kann nicht einfach entspannt auf der Terrasse sitzen und abschalten- ein Ohr bzw. Auge hat ständig Bereitschaft zur Unterstützung der Jungs bei auftretenden Konflikten.

Aus den Beobachtungen die wir hier machen können, leiten sich wichtige Erziehungsziele ab, die in die Dokumentation meiner Arbeit einfließen und wiederum in der Fachberatung reflektiert werden.

Beim Abendessen unterstützt mich dann mein Mann, der die beiden Jungs auch ins Bett bringt und ihnen Gute-Nacht-Geschichten vorliest. Bei Bedarf schneider er ihnen auch die Fuß- und Fingernägel oder führt Gespräche von „Mann zu Mann“.

Vielen Dank ausdrücklich an dieser Stelle für die ehrenamtliche Unterstützung seinerseits bei meiner beruflichen Tätigkeit!!!

Jetzt beginnt die Zeit für unsere Kernfamilie, denn inzwischen ist auch unser leiblicher Sohn von einer Fahrstunde nach Hause gekommen. Er erzählt kurz von seinem Tag, dann muss er noch zum Training in einen Nachbarort gebracht werden.

Die Präsentation der Facharbeit unserer Tochter lief richtig gut, sie berichtet noch ausgiebig von ihrem Tag.

Abends sitze ich dann auf dem Sofa neben meinem Mann und reflektiere den Tag- und frage mich zum widerholten Mal, was ich eigentlich den ganzen Tag gemacht habe: Die Küche sieht aus wie ein Schlachtfeld, Wäsche muss noch aufgehängt bzw. zusammengelegt werden,…

Endlich Feierabend!?! (Anmerkung: Im Heimbereich nennt man den Dienst ab 22 Uhr Nachtbereitschaft.)

Das ist unser Alltag, so oder so ähnlich, die Situationen sind frei zusammengestellt, die Personen allerdings nicht frei erfunden.

Wir sind eine „öffentliche Familie“ und werden von unserem Umfeld durchaus kontrovers wahrgenommen.

Da gibt es einerseits Menschen, die bewundernd und anerkennend den Hut vor dem ziehen, was wir leisten. Andere wiederum beäugen uns misstrauisch und bemerken, dass wir den Job ja schließlich für Geld machen und uns sozusagen an den Kindern (und deren Schicksal) bereichern würden.

Aber so wirklich tauschen möchte niemand mit uns- vor allem nicht diejenigen, die einen intensiveren Einblick in unseren Familienalltag haben.

Und ja, natürlich verdiene ich als Erzieherin Geld mit dieser Arbeit- und das würde ich ja auch, wenn ich „meine“ beiden Jungs in irgendeinem Heim (dort aber auch ohne Anschluss an eine Familie!) betreuen würde. Das hätte dann allerdings auch den Vorteil, dass in dem Falle nicht auch noch meine eigene Familie mit meiner Arbeit berührt werden würde. Und ich hätte Feierabende, Urlaubstage ohne meinen Job, freie Wochenenden,…das wär‘ allerdings auch mal eine Überlegung wert…

Trotzdem- ich/wir würden nicht tauschen wollen!!!

Und so genießen wir unsere Wochenenden gemeinsam mit den Jungs am Wohnwagen auf einem Dauerstellplatz, unternehmen mit ihnen Ausflüge in die nähere Umgebung oder fahren  mit ihnen in ein Pfadfinderlager.

Und manchmal melden wir sie (und das auch mal zu unserer Entlastung!) auf Kinderfreizeiten in den Ferien an.

Dann sind wir einfach wieder „nur“ Familie R.